Berliner Geschichte ganz persönlich

2009. Überall wird das Thema des Jahres thematisiert. 20 Jahre Mauerfall. Einige können das Thema nicht mehr hören, andere können sich nicht satt hören, sehen. In zahllosen Ausstellungen, in den Zeitungen, im kulturellen Leben Berlins erscheint es. Es wird von allen Seiten beleuchtet. 20 Jahre Mauerfall hat das Leben verändert, geprägt. Es ist ein geschichtliches Ereignis oder ist es das geschichtliche Ereignis?

Ich gehöre zu der Generation, die sicher einmal gefragt werden wird, „Erzähl doch mal, wie war das damals, als die Mauer noch stand? Wie konnte man mit ihr leben? Wie war das Leben, gerade in Berlin, als sie verschwand?

Geboren 1968, in einer Zeit, als der Mauerbau von August 1961, als Narbe durch Deutschland, begann sich zu normalisieren, als Alltag mit der Mauer. In Berlin waren zu jener Zeit die meisten Kriegsspuren verschwunden oder zumindest versteckt. Wurden nicht mehr war genommen. Es war normal geworden, dass an dieser oder jenen Ecke kein Haus mehr stand, Das Grün der Natur hatte Ecken und Plätze erobert und fest im Griff. Und doch, auch 60 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, blieb im Sprachgebrauch der Krieg allgegenwärtig. Die Natur eroberte, man nahm ein, woher kamen diese Begriffe? Waren sie aus dem letzten Krieg noch übrig oder bereits in einem der zahllosen Kriege davor in die deutsche Sprache aufgenommen worden? In Berlin blieb der letzte Krieg aber auch noch auf andere Weise stärker allgegenwärtig. Der nun als ´kalter Krieg´ bezeichnete Zustand des Berliner Alltages. Die Alliierten hatten das Leben und das Stadtbild stark geprägt. Auch ich lauschte meinen Eltern und Großeltern bei Erzählungen und fragte neugierig, wie war das damals, vor dem Mauerbau? Konnte mir ein Leben in ganz Berlin nicht so richtig vorstellen. Viele sprachen auch von Groß Berlin.

Ich wuchs im amerikanischen Sektor von Berlin auf. Später, nach dem Mauerfall, saß ich bei einem Mallorcaurlaub mal in einem Café und ein Herr suchte offensichtlich einen Gesprächspartner. Er fragte meine Freundin und mich, nachdem er uns eine Weile zugehört hatte, wo wir denn her seien. Meine Freundin sagte ihm „Berlin“. Der Herr wollte mehr wissen. Er benutzte das damalig so verbreitete Schubladendenken und fragte noch „Ost oder West?“. In eine Schublade wollte ich nicht gesteckt werden. Das erinnerte mich immer an mein Kinderbuch mit dem Pumuckel. Dieser kleine, rothaarige Kobold wurde immer in eine Schublade gesperrt, wenn er Blödsinn machte. War es etwas Schlimmes aus Berlin zu stammen? Manchmal hatte man in dieser Zeit so das Gefühl. Ja, wir West-Berliner empfanden uns schon solange ich Denken kann, als etwas Besonderes. Zumindest im Bauch gab es dieses Gefühl. Aber war dies schlimm oder war dies ein gesunder Stolz auf die Heimat? Ich antwortete also diesem Herrn im Café in Palma de Mallorca nicht so, wie er gehofft hatte. Ich sagte nur knapp," ich habe immer im Süden von Berlin gewohnt". Sein lächeln war gequält.

Meine ersten Lebensjahre verbrachte ich in der damals neu entstandenen Gropiusstadt. Ein Hochhausgebiet im äußersten Südosten von West-Berlin. Als meine Eltern und mein Bruder dort hinzogen, war dies Erstbezug. Die Grünanlagen und Spielplätze waren noch Baustelle. Ein neues Leben begann. Sie bezogen zwar eine Wohnung im Erdgeschoß, ab dieser Zeit baute man jedoch höher. Die meisten Häuser dort hatten 10 / 12 Stockwerke. Als ich geboren wurde, wohnten wir zu viert in einer Zweizimmer-Wohnung. Das kann ich mir heute nicht mehr vorstellen. Heute bewohnen wir jeder eine Zweizimmer-Wohnung. Am Wochenende machte die Familie Ausflüge mit dem Fahrrad. Picknick auf der-Wiese-an-der-Mauer, steht später im Fotoalbum. Wenn man heute dort durch die Häuserschluchten läuft freut man sich über jeden Grashalm. Hier hat die Natur nicht „erobert“. Sie wurde besiegt. Die Spielplätze, wenn sie nicht neuen Hochhäusern weichen mussten, sind betoniert oder mit Gummimatten ausgelegt. Wir sprangen noch von der Schaukel in den Sand.

Wir wohnten in einer Sackgasse, in der ein U-Bahnhof mit Ladenzeile stand. Die Parkplätze für die Autos waren im Kreis angeordnet, sodass wir mit dem Fahrrad gut fahren konnten. Zu unserer Erdgeschoßwohnung gehörte eine Terrasse, vor der eine Wiese lag. Wenn man schräg über diese Wiese lief, war man direkt auf dem Spielplatz. Dort standen eine Schaukel und ein Klettergerüst in einem Sandkasten. Wie viel Zeit ich dort verbrachte, vermag ich heute nicht mehr zu sagen. Erinnerungen an die Jahre vor der Einschulung sind bekanntlich sehr lückenhaft oder durch Erzählungen der Eltern und Fotos aufgefrischt / manipuliert. Was ich noch genau weis, ich erhielt damals 50 Pfennig Taschengeld. Diese erhielt ich nie in einem Stück, damit ich sie mit meiner Puppe Timmy teilen konnte. Er besaß eine eigene Spardose, aus der ich mir von Zeit zu Zeit mal etwas lieh. Ob ich es jemals wieder zurückgezahlt habe, habe ich vergessen. Wenn der Eiswagen in der Sackgasse vorm Haus hielt, durfte ich mir von meinem Taschengeld eine Kugel Eis kaufen. In der Ladenzeile gab es auch einen Bäcker. Dieser verkaufte Blechkuchen und da die Kunden lieber Mittelstücke haben wollten, schnitt er einen zwei Finger breiten Rand ab. Wenn wir Kinder dort nach Kuchenränder fragten, erhielten wir diese geschenkt. Manchmal waren noch Streusel drauf oder mal ein Kirsche, dann waren wir besonders stolz.

Mein Bruder wurde in der Gropiusstadt eingeschult. Auf dem Schulhof seiner Schule lebte ein Esel. Er hieß Benjamin. Wie es dazu kam, ist mir nicht bekannt. Aber ich erinnere mich noch genau daran, wie erzählt wurde, dass er starb. Er wurde von den Kindern nicht nur mit übrig gebliebenen Pausenbrote gefüttert. Die Kinder sollen zu faul gewesen sein, diese auszupacken. Das Butterbrotpapier und die Plastiktüten hat er nicht vertragen.
Einmal hatten wir Besuch von meiner Tante aus Köpenick. Da sind wir, obwohl wir dies sonst nicht taten, zusammen zur Schule gelaufen und holten meinen Bruder ab. An diesem Tag war es so Stürmisch, dass wir für den Weg zurück sehr lange brauchten und man konnte sich, einfach im Stehen, anlehnen.

Diese Tante war die Schwester von meinem Großvater und sie besuchte uns öfters mal. Sie fuhr dann immer mit der U-Bahn bis Friedrichstr. und lief durch die Grenzkontrolle. Alle Bürger der DDR, die über 60 Jahre waren, durften eine bestimmte Anzahl an Tagen in den Westen. Einmal im Jahr erhielten sie 100,- DM Begrüßungsgeld. Auf dem Weg ging sie immer noch zu Bilka. Das war ein Kaufhaus zwischen Zoo und Ku´damm. Dort kaufte sie sich davon Perlonstrumpfhosen und Zeitschriften, von denen meine Mutter immer sagte, da steht nur Quatsch drin. Druckerzeugnisse, wie die Grenzer diese nannten, durfte man nicht mitnehmen in die DDR. Also müssten sie geschmuggelt werden. Meine Tante steckte sie zwischen Unterrock und Bluse. Wenn sie sich verabschiedete sah sie immer ganz eckig aus. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass die Grenzer dies nicht bemerkten. Vielleicht wollten sie auch bloß nicht.
Mein Großvater war auch paar Mal zu Besuch. Er fuhr auch öfters in sein Haus in Zehlendorf, im Südwesten von West-Berlin. Meine Großeltern wohnten bis 1958 dort, dann baute mein Großvater in Greifswald ein weiteres Haus. Er arbeitet dort an der Uni und die Familie zog dort hin. Mein Großvater war bereits vor der, jetzt muss ich ja schreiben, vorletzten Jahrhundertwende geboren und damit immer zwei Jahre älter, als das Jahr zählte. In Zehlendorf behielt er immer noch sein Patentanwaltsbüro. Zumindest erhielten wir Ende der 70ziger Jahre noch viel Post an ihn, aus vielen verschiedenen Ländern. Als wir in der Gropiusstadt wohnten kannte ich meine Oma noch nicht. Sie war noch nicht 60 Jahre und eine Einreisemöglichkeit für uns gab es erst ab 1972, mit dem Transitabkommen.
Meine Mutter fragte meinen Bruder und mich mal, ob wir nicht Lust hätten, zu Oma nach Greifswald zu fahren. Wir könnten dort 1 Woche Urlaub machen. Mein Bruder zögerte. Er muss zu dieser Zeit bereits 7 Jahre alt gewesen sein. Oma, dass war für mich, gerade mal 4, nur ein Begriff aus den Kinderbüchern. Dort waren Omas alle prima. Meine andere Oma wohne damals bereits in Heilbronn. Ich weis nicht, ob wir sie bereits mal besucht hatten. Zumindest soll ich meiner Mutter gesagt haben, ich würde auch für 1000 Tage zu Oma fahren. Das überzeugte wohl meinen Bruder. Ich war wohl schon immer etwas aufgeweckter. Jedenfalls besuchte uns mein Großvater und wir fuhren gemeinsam zur Friedrichstr.. Dort verabschiedeten wir uns von Mama und liefen über die Grenze. Vor dem, im Volksmund genannten, Tränenpalast wartete Oma mit ihrem Wartburg. Mit diesem fuhren wir dann nach Greifswald. Dort, nicht weit vom Unigelände, bewohnten meine Großeltern ein großes Haus mit 6 Zimmer. Wie viele Stockwerke das Haus hatte, ließ sich schwer sagen. Man ging von der Straße drei kleine Stufen hoch, um ins Haus zu gelangen. In dieser Ebene befanden sich die Essecke im Flur und die Küche, sowie eine kleine Toilette. Dann ging man eine steile Treppe hinunter und gelangte ins Wohnzimmer. Daneben waren noch eine Waschküche und die Garage, sowie davor die Terrasse mit Garten. Man konnte aber auch von der Straße aus, neben dem Haus entlang laufen, um in den Garten zu gehen. Dieses Stück Wiese war vielleicht nicht ganz plan, aber so steil wie die Treppe im Haus war es nicht. Von Außen machte es also den Anschein der Garten liegt auf Höhe der Straße. Eine Treppe hoch gab es 3 Zimmer. Diese lagen alle zum Garten hin. Eine weitere Treppe hoch, mit den Fenstern zur Straße, war das Bad und das Schlafzimmer meiner Großeltern. Da drüber war der Dachboden. Dieser war für uns Kinder eine Goldgrube. Wir fanden dort Spielzeug von meiner Tante und selbst von meinem Großvater noch. Anker Steinbaukästen, echtes Puppenporzellan, eine Puppenstube und einen alten Puppenwagen. Ein Paradies für meinen Timmy. Der war natürlich mitgereist. Für diesen Zweck erstellten wir ihm auch einen Kinderausweis, so wie wir einen hatten. Wenn man zu dieser Zeit über Nacht zu Besuch in der DDR war, musste man dieses bei der örtlichen Polizei melden. Dafür wurde ein Hausbuch geführt. Mein Bruder konnte sein Name schon schreiben und durfte dort selbst unterschreiben. Mir wurde von Großvater gezeigt, wie er meinen Namen dort eintrug. Dieses Buch brauchte irgendwann nicht mehr geführt werden, daher fand ich es leider nicht mehr bei der Hausauflösung 1992. Meine Oma hatte jedoch eine andere Methode entwickelt, für die Nachwelt die Besucher des Hauses festzuhalten.
In einem Zimmer gab es an der Türzarge zahlreiche Eintragungen mit Bleistift. Alle Familienmitglieder wurden an diese Zarge gestellt und mit Datum des Besuches wurde die Körpergröße notiert. Daher weis ich heute, dass ich 115,5 cm groß war, als ich 1973 in Greifswald zu Besuch war. Auch meine Puppe Timmy und Bimbo, der spätere Stoffaffe von meinem Cousin wurden verewigt. In Greifswald verlebten wir schöne Ferien. Im Nachbarhaus wohnten drei Mädchen, die Jüngste war so alt wie ich. Wir spielten viel miteinander. Ich erinnere mich noch an das Eis, was es im Konsum, so hießen in der DDR die Lebensmittelläden, gab. Zu dem Pappbecher gab es ganz kleine Löffel, auf dessen Stiel Vornamen standen. Ich sammelte diese Löffel, denn sie hatten die richtige Größe für meine Puppenküche. Oma machte Mittagsschlaf im Garten und wenn am Nachmittag die Läden wieder öffneten, so ging man einkaufen. Dafür war Schlange stehen an der Tagesordnung. Daher fuhr ich mit dem Roller schon zeitig zum ersten Laden und stellte mich an. Wenn Oma dann ausgeschlafen hatte, kam sie, mich ablösen. Während sie in einem Laden war, stellte ich mich bereits im nächsten Geschäft an. Dann ging es schneller. Auch war Oma voller Ideen, wenn wir zum Beispiel ihre Suppe nicht essen wollten. Sie wickelte den Suppentopf in eine große Decke, packte Löffel für alle ein und fuhr mit ihrem Wartburg irgendwo in den Wald. Dort wurde gewandert. Unterwegs suchten wir uns einen Baumstamm, jeder bekam einen Löffel in die Hand und was glauben Sie, wie gut plötzlich Suppe schmeckt? Wir fuhren nach Rügen, zu den Kreidefelsen, mit dessen Kreide wir später die Straße bemalten. Sammelten Pilze, ernteten Himbeeren im Garten und gingen nach dem Abendbrot ins Sportstadion. Das war nicht weit. Dort sollten wir eine Aschebahnrunde laufen und dann stellte sich Oma ins Tor und spiele Fußball mit uns. Solche Urlaube, ohne Eltern, bei Oma waren klasse. Drei Mal fuhren wir, dann starb leider mein Großvater. Oma wollte nicht alleine in dem Haus wohnen und mein Onkel, seine Frau und meine beiden Cousins zogen von Dessau in den Norden. Ich erinnere mich, dass ich meinen Cousin mal beneidete, da er jeden Tag bei Oma war. Ich stellte mir wohl vor, dass er dadurch immer Ferien hat. Unsere Besuche beschränkten sich fortan auf höchstens eine Nacht und gestalteten sich als typische Familienbesuche – Essen, die Erwachsene unterhalten sich und die Kinder verziehen sich in die Kinderzimmer oder nach draußen.

Wir zogen 1973 nach Marienfelde. In diesem Teil von Tempelhof entstand gerade ein neues Hochhausgebiet. Wohnungsnot ließ die begrenzte Stadt innerhalb ihrer Mauer(n) wachsen. Wir bekamen eine 2 2-halbe Zimmerwohnung. Es musste gespart werden. Wohnraum war knapp und es gab zu viele kinderreiche Familien. Ein Kinderzimmer brauchte bloß die Hälfte an Fläche, es zieht ja schließlich auch nur eine halbe Person ein. Wahrscheinlich hatten die damaligen Architekten ihre Kindheit noch Draußen verbracht und im Kinderzimmer wurde nur geschlafen. Da frage ich mich, wie das Wetter damals war oder waren wir nur so empfindlich? Meine Eltern dachten da anders. Mein Bruder bezog das offizielle Schlafzimmer und meine Eltern eines der kleinen Zimmer, die nicht größer waren, als die „Kammern“ die früher vom Dienstpersonal zum Nächtigen benutzt wurden. Spielen durfte ich auch im Flur bzw. wir bezogen das Schlafzimmer teilweise mit ein, wenn die Eisenbahnstrecken länger geplant wurden. Ansonsten war bei meinem Bruder genug Platz für Zwei. Wir haben aber auch draußen gespielt. In Marienfelde gab es damals viele Spielplätze, mit viel Sand und eine neue Wiese-an-der-Mauer. Ein Stück westlicher eben, die Fortsetzung. Diese wurde durch einen asphaltierten Weg durchzogen, dem Schlangenlinienweg. Dort traf man sich zum Drachen steigen.

Nach 2 ½ Jahren, ich war mittlerweile Schulkind, zogen wir wieder um. Mein Großvater war verstorben und meine Mutter erbte sein Haus in Zehlendorf. Wieder ein Stück westlicher, immer noch im Süden und dieses Mal nicht mehr mit Blick auf die Mauer. Nun hatten wir jeder ein großes Zimmer und einen eigenen Garten mit Rasen und Schaukel. Um zur Mauer zu gelangen musste man nun schon eine Radtour machen, aber die Teilung Berlins war anders präsent. Als mein Großvater dieses Reihenhaus in der Onkel-Tom-Siedlung kaufte, stand ringsherum Wald. Nach dem Krieg bauten die Amerikaner gleich dahinter eine eigene Siedlung. Sie hatten ihren eigenen Baustiel. Die Wohnungen hatten keine Balkone, auf die ansonsten sehr viel Wert gelegt wurde. Die Amerikaner trafen sich im gemeinsamen Garten und grillten, Verzeihung, es gab Barbecue. Um die dreistöckigen Häuser gab es großzügige Rasenflächen und zu jedem Block gehörte ein Spielplatz. Die Straßen waren fast doppelt so breit, es musste 30 km / h gefahren werden und die Autos parkten nicht an den Straßenrändern. Für sie gab es Parkplätze hinter den Häusern. Alles wirkte größer, weiter, amerikanisch eben.

Nach den Weihnachtsferien kam ich in die neue Schule. Ein Mädchen aus der Klasse kannte ich bereits. Die Familie hatte uns schon mehrfach besucht, als wir noch in der Gropiusstadt wohnten. Meine Mutter kannte ihren Vater, da sie bereits Nachbarskinder waren. Vielleicht lag es genau daran, was anfangs so gut aussah, machte mir dann das Leben schwer. Ich hatte große Schwierigkeiten in der neuen Klasse Freundinnen zu finden und sehnte mich oft zurück. Mit zwei Freundinnen aus meiner Einschulungsklasse hatte ich noch intensiven Kontakt. Eine Freundschaft hält bis heute.

Anfangs war es toll in einem Haus mit Garten zu wohnen und sein eigenes großes Zimmer zu haben. Aber ältere Häuser haben einen entschiedenen Nachteil. Sie lassen sich schlechter heizen als Neubauwohnungen. In jedem Zimmer herrschte eine andere Temperatur und der Weg über den Flur war kalt. Dadurch stieg die Freude auf den Sommer umso mehr. Dann waren wir mit dem Fahrrad unterwegs, stromerten durch den Grunewald oder waren in der Amisiedung, auf der Lachschaukel. Diese hatte ihren Namen erhalten, weil die Sitzfläche so komisch war. Wir kannten nur ein Schaukelbrett. Die Amis benutzen ein Gewebe-Gummiband zum drauf sitzen. Meine Einschulungsfreundin und ich fanden dies so komisch, dass wir beim Schaukeln immer so viel lachen mussten. Sicher kann dies nicht nachvollzogen werden, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Wenn man ca. 8 Jahre alte Mädchen erlebt und dessen Lachanfälle kennt, ist es vielleicht besser vorstellbar.

Fünf Minuten Fußweg waren es bis zur großen Festwiese, wo jedes Jahr das Deutsch-Amerikanische Volksfest stattfand. Wenn ich mich richtig erinnere hatten Kinder bis 14 Jahren freien Eintritt. In diesen 14 Tagen war ich häufiger da und schaute mir die vielen Karussells an, kaufte amerikanisches Eis in quadratischen Papppackungen und lauschte dem Musikprogramm. Die Fahrgeschäfte interessierten mich nicht so, daher gab ich auch wenig Geld aus. Mir wurde schon immer schnell schlecht, wenn sich etwas dreht. Auch die Drehpilze auf Spielplätzen mied ich. Eine Schaukel geht immer nur in eine Richtung und Rutschen fand ich klasse.

Urlaub war in unserer Familie immer sehr wichtig. Daher verreisten wir oft, auch wenn es nur für paar Tage war. Ein langes Wochenende, Pfingsten oder über den 17. Juni einfach mal paar Tage nach Dänemark und Weihnachten / Silvester für eine gute Wochen in eine kleine Ferienwohnung, meistens nach Bayern. Im Sommer führen wir oft vier oder sogar fünf Wochen weg. Dann wurde das Zelt und teilweise die Fahrräder im / auf dem Auto verstaut. In diesen Jahren waren wir in fast allen westeuropäischen Ländern. Und doch begannen alle Urlaube gleich. An der Grenzkontrolle in Dreilinden. Wenn man Transit durch die DDR fahren wollte, wurde man zwar nicht ganz so kontrolliert, aber Ausweiskontrollen waren Pflicht. An diesen Grenzübergängen gab es eine goldene Regel. Nur mein Vater redete, wenn wir etwas gefragt wurden. Denn wenn dort ein falsches Wort fiel, konnte es sehr großen Ärger, sogar Verhaftungen geben. Nicht immer hielten wir uns an die Regeln der DDR. Meistens bei der Einreise war diese goldene Regel daher besonders wichtig. Ohne Genehmigung durfte kein Kontakt zu Verwandtschaft in der DDR aufgenommen werden. Als Tagestourist im Harz fuhren wir jedoch regelmäßig zum Abendbrot nach Magdeburg, zu den Schwestern meines Großvaters. Auf dem Weg nach Schweden, die Fähren fuhren hierfür ab Warnemünde, trafen wir uns mit der Cousine meiner Vaters, die mit der Familie in Rostock wohnte. Wenn man viel zu früh an der Fähre war, durfte man noch nicht in das Hafengebiet herein. Da konnte man gar nicht anders als in der Nähe die Stadt anzuschauen.

Reisen in oder durch die DDR hatten immer etwas mit Aberteuer zu tun. Leichte Beklemmung überfiel einen, denn die Behörden der DDR galten als unberechenbar. Ohne sich etwas dabei zu denken, konnte bereits die kleinste Kleinigkeit zu sehr großem Ärger führen. Für jemanden, der dies nicht selbst erlebt hat, ist diese Situation oder auch Atmosphäre unvorstellbar. Dies begann bereits im Forum Steglitz, in der zweiten Etage. Dort musste man hin, wenn man in die DDR einreisten wollte. Die DDR-Behörden sollen alle Reisen, auch Transit, dokumentiert haben. Man erhielt eine Woche nach Beantragung ein Einreisevisum. Um nicht immer so lange warten zu müssen gab es die Möglichkeit der Mehrfachberechtigungsscheine. Diese ermöglichten, auch kurzfristig, sechs Reisen in die DDR. Soweit ich informiert bin, galt dies nur für Bürger aus Berlin-West, wie die DDR uns nannte. Wer im so genannten Westdeutschland, für die DDR, in der BRD, wohnte, benötigte immer eine Einladung von Verwandtschaft für die Einreise. Als Tagestourist war ein Besuch nicht möglich.

Anfänglich zahlte man eine Straßenbenutzungsgebühr. Später gab es den Zwangsumtausch. Erwachsene mussten dann 25,- DM zum Kurs eins zu eins in DDR-Mark tauschen. Da eine Ausfuhr dieser DDR-Mark nicht gestattet war, stellte die Ausgabe eine große Herausforderung da. Was es so zu kaufen gab, durfte man nicht ausführen oder gab es in besserer Qualität zuhause. Ich war mit meiner Einschulungsfreundin mal in Ost-Berlin. Nachdem wir essen gegangen waren, ich mir ein Naturwissenschaftliches Fachbuch und Schreibpapier für die Schule (ein Lehrer verbot mir die Nutzung aufgrund der schlechten Qualität. Es hatte viele Holzstücke drin und die Tinte verlief stark.) gekauft hatte und uns von dem ganzen Eis, was wir geschleckt hatten, schlecht war, schenkten wir einer vorbei laufenden Mutter ca. 8,- M. Sie war ganz verschreckt, vermutete sonst etwas dahinter und konnte uns gar nicht verstehen. Zugegeben, wer erlebt so etwas sonst schon, dass einem einfach so auf der Straße Geld geschenkt wird? Und Obdachlose und Bettler gab es im Stadtbild von Ost-Berlin nicht. Bei Verwandtschaftsbesuchen war dies schon einfacher. Mein Bruder und ich hatten zahlreiche Kinder(bilder)bücher und Spielzeug aus der DDR. Meine Puppen trugen Kleider Made in DDR, wenn meine Mutter oder Oma sie nicht selbst genäht hatten und in meinem Kaufmannsladen gab es ATA, Florena und Russisch Brot, statt Viss, Nivea und Butterkekse.

Mit fast 20 Jahren zog ich in meine erste eigene Wohnung. Diese bestand nur aus einem großen Zimmer und befand sich wieder in Tempelhof. Diesmal jedoch etwas nördlicher, in Alt-Mariendorf. Von der Mauer und den Alliierten bekam ich, in meinem Alltag, weniger mit. West-Berlin war zu dieser Zeit für mich eine überschaubare Stadt. Obwohl ich zugeben muss, dass nur der südliche Teil mir wirklich geläufig war. Obwohl ich mittlerweile mit dem Auto unterwegs war, orientierte ich mich, musste ich mal irgendwo nördlich vom Ku´damm hin, an den U-Bahnstationen. Das U-Bahnnetz hatte ich verinnerlicht. Das Leben floss ruhig dahin.

1989. Irgendwie war es unruhig in der DDR geworden. Es ist schwierig, jetzt nach 20 Jahren dies genauer Nachzuvollziehen. Was Drüben passierte, interessierte mich zwar, lebten doch meine Cousins, Onkel und meine Oma dort. Aber genauer damit befasst habe ich mich nie, auch nicht zu dieser Zeit. Politik war und ist eigentlich auch heute noch, ein Thema, wo ich beim Fernseher, lieber umschalte. Was im Vorfeld diskutiert wird, ist eh nur Idee oder Spekulation, Wahlversprechen entpuppen sich meist als heiße Luft und wenn mal etwas beschlossen wird, dann ist es nicht mehr zu ändern. Aufregen zwecklos. Mein Onkel erzählte mir im Frühling 89 davon, dass evtl. sein Buch „Papiersterne“ verfilmt werden soll. In diesem Buch geht es um eine Ost-West-Geschichte zur Zeit der Pariser Studentenunruhen 1968. Er scherzte noch, dass dann wohl im Ausland gedreht werden muss, da in der DDR Massenansammlungen und Demonstrationen verboten sein. Im Oktober / November lief bei mir auch manchmal Aktuelle Kamera, die Nachrichtensendung aus der DDR. Aber wirklich hingeschaut habe ich nicht. So auch am 9. November. Nicht genau zugehört, nicht verstanden.

Am Morgen des 10. November 1989, ich ließ mich immer mit dem Radiosender wecken, wurde wenig Musik gespielt. Es war die Rede von der Öffnung der Grenzen, DDR-Bürger auf dem Ku´damm und lange Schlangen, bereits um 6:00 Uhr früh, vor den Banken. Alles wirkte so unruhig, hektisch. Erst als ist mit dem Auto am Ku´damm-Eck war, mein Weg zur Arbeit führte mich dort täglich vorbei, begann ich wirklich zu begreifen. Neben der Parkspur standen die Trabis dicht an dicht auf der rechten Spur, einfach abgestellt. Regeln schien es nicht mehr zu geben. Menschenmassen waren um kurz vor 7:00 Uhr am Bahnhof Zoo unterwegs. Unter dem Vordach der Kassenhäuschen am Zoologischen Garten lagen die Menschen in Schlafsäcken, dicht an dicht. Das war ein unbegreifliches Bild. Und doch, man fuhr zur Arbeit, hörte zwar Radio, aber ging ansonsten seinen Pflichten nach. Der Ausnahmezustand schien draußen zu bleiben. Mein Kollege kam an diesem Morgen recht mürrisch ins Labor. Er wohnte in einer Seitenstraße vom Ku´damm und die Nacht war wohl recht laut zugegangen. Jeder wird jetzt denken, ist doch toll das Geschehen so hautnah erleben zu können. Er konnte nicht, wie ich, die Ereignisse verschlafen. Er war gerade dabei seine Doktorarbeit zu schreiben und war auch sonst kein sehr geselliger Mensch. Zum Feierabend herrschte auf den Straßen Chaos. Viele Trabis waren unterwegs, ortsunkundig ordneten sie sich falsch ein und kreuzten unaufmerksam einem den Weg. Klar, es gab so viel zu sehen, da war die Aufmerksamkeit selten bei dem übrigen Verkehr. Auch mich streifte in den ersten Wochen ein Trabi, als er mitten auf der Kreuzung plötzlich die Spur wechselte. Zum Glück passierte nichts Größeres und mein Derby hatte eh schon seine besten Jahre hinter sich. Denn die 100,- DM Begrüßungsgeld waren sicher schon ausgegeben und ob eine Regelung über Versicherungen in dieser Zeit funktioniert hätte, wollte ich nicht probieren.

Aber auch diese Zeit ging vorbei und der Alltag kehrte wieder ein. Im Februar 1990 wechselte ich die Arbeitsstelle. Hinterher wurde klar, dass dies die letzte Gelegenheit für lange war, dies zu tun. Nach der offiziellen Wiedervereinigung am 03. Oktober 1990 strömten die ehemaligen DDR-Bürger auf den Arbeitsmarkt. Gerade in Berlin war dies sicher extrem. In allen Bereichen versuchte die Stadt mit zahlreichen Hauruck-Aktionen zusammen zu wachsen. Dabei blieb, von beiden Seiten, so mancher auf der Strecke. Das Leben, der Alltag hatte sich verändert. Ich hatte damals das Gefühl, dass es nur noch ein Ellenbogendenken gab. Jeder versuchte für sich das Beste zu erreichen. Ein Miteinander ging irgendwann verloren. Aus dem doch recht beschaulichen West-Berlin war eine hektische und anonyme Großstadt geworden.

 

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